Almabtriebe: Geschichte einer Tiroler Tradition

Aktualisiert am 07.11.2018

Die Almen spielten seit jeher eine wichtige Rolle in der Landwirtschaft Tirols. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich rund um die Sommerweiden hoch oben in den Bergen zahlreiche Traditionen und Bräuche gebildet. Am wichtigsten ist dabei der Almabtrieb im Herbst, dessen Wurzeln bis in die Jungsteinzeit zurückreichen.

Steile Hänge, eine kurze Vegetationsperiode, niedrige Temperaturen, eine lang anhaltende Schneedecke – es sind diese Herausforderungen, die der alpinen Landwirtschaft in Tirol ihre heutige Gestalt geben. Vor allem die Bedeutung der Viehwirtschaft ist auf die geographischen und klimatischen Bedingungen zurückzuführen. So kann mittels Kühen, Schafen und Ziegen ein Terrain erschlossen werden, das sich für herkömmliche Feldfrucht-Bebauung nicht eignet. Die Flächen in den Bergen ab 1.000 Meter Seehöhe, wo Gräser und Kräuter wachsen und klares Wasser fließt – kurzum die Almen.

Erste Almen in der Jungsteinzeit
Schon in der Jungsteinzeit haben Alpenbewohner alpine Wiesen als Weideflächen genutzt. Pollenanalytische Untersuchungen an der Universität Innsbruck ergaben, dass Almen im hinteren Ötztal bereits vor mehr als 6.000 Jahren beweidet wurden. Auf der Kelch-Alm bei Kitzbühel wurden Überreste von Almtieren aus der Spät-Bronzezeit (1250-750 vor Christus) gefunden, wobei die Almwirtschaft hier wahrscheinlich Produkte für die Verpflegung von Bergleuten (Kupferabbau) geliefert hat.


Zur Zeit der Kelten und Römer waren es vor allem die Graszonen am Talschluss, die von den lokalen Viehzüchtern „bestoßen“, also genutzt wurden. Die vorrömischen und romanischen Namen vieler zu dieser Zeit erschlossener Almen haben sich mancherorts bis heute erhalten. Ab 1.000 nach Christus schließlich erschloss die wachsende Bevölkerung, durch Rodung Weideflächen in den Bergen, vor allem zwischen 1.000 und 1.500 Metern Seehöhe. Sie tragen Namen, die sich aus dem Deutschen ableiten.

Almen im heutigen Tirol
Die Almlandschaft, wie wir sie heute kennen, ist seit dem Mittelalter im Wesentlichen dieselbe. Das zeigt sich zum Beispiel im Rattenberger Salbuch von 1416, in dem alle Almen des Alpbachtals aufgelistet werden. Sie existieren nahezu alle heute noch, sind größtenteils sogar den gleichen Talhöfen zugeordnet. 180.000 Hektar sommerliche Zusatzweidefläche und 2.100 Almen gibt es heute in Tirol. Sie ernähren im Sommer rund 110.000 Kälber, Milchkühe, Stiere und Ochsen (über 50% des Tiroler Rinderbestands), zudem werden über 70.000 Schafe, gut 5.500 Ziegen und zirka 2.000 Pferde „gesömmert“.

Einfluss der Almen auf Kultur und Alltag
Natürlich fanden die Almen auch in der Kultur der Tiroler Landbevölkerung ihren Niederschlag. Hier entstand der Jodler, hier spielten Sagen und Geschichten. In Volksliedern besang man früher das sommerliche Leben oben im Gebirge. Um Schutz und Segen wurden bestimmte Heilige angerufen, Barbara, Leonhard, Antonius und vor allem Wendelin. Ihnen zu Ehren wurden auf einigen Almen Kapellen errichtet. Heilige dienten wie bäuerlichen Alltag üblich auch als kalendarische Orientierung. Aufgefahren, also das Vieh auf die Alm gebracht, wurde – je nach Höhenlage – zu St. Bonifaz (5. Juni), St. Vitus (19. Juni), St. Johann (24. Juni) oder St. Kilian (8. Juli). In manchen Regionen waren allerdings die jeweiligen Wochentage wichtiger: Im Ötztal wurden der Mittwoch und Freitag gemieden, im Unterinntal glaubte man, ein Auftrieb am Sonntag, Dienstag oder Donnerstag würde Unglück bringen, wohingegen im Stanzertal die beiden letzteren Tage sogar bevorzugt wurden. In der  Imster Gegend und Osttirol wurde zudem die richtige Mondphase berücksichtigt. Das wichtigste Ereignis im Almjahr war jedoch der Almabtrieb. Heimgefahren wurde traditionell zwischen St. Bartholomäus (24. August) und St. Michael (29. September), abhängig davon, ob auf den Wiesen noch genug Gras und Wasser zu finden war.

Almabtrieb als symbolisches Fest und Kunstobjekt
Rund um die Rückkehr von Vieh und Hirten entstand mit der Zeit buntes Brauchtum. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts tauchten Berichte von geschmückten Tieren auf. Der Tiroler Maler Jakob Placidus Altmutter hielt 1812 eine Almabtriebsszene als getönte Federzeichnung fest, sie befindet sich heute im Besitz des Landesmuseums Ferdinandeum. Auch Autoren wie Beda Weber, Ludwig Steub oder Adolf Pichler beschrieben das jährliche Ereignis.
In der Wissenschaft wurde das Schmücken des Viehs eine Zeitlang als eine Art Schutzzauber gegen böse Geister interpretiert. Davon ist man inzwischen abgerückt. So spricht die Tatsache dagegen, dass in vielen Orten nur ausgewählte Tiere „aufgebuscht“ oder „aufgekranzt“ wurden. Gab es während des Almsommers Verluste durch Krankheit, Steinschlag oder Unwetter, wurde sogar gänzlich ungeschmückt heimgefahren. Und an den schwierigsten Stellen der Wege, wo Schutz ja besonders von Nöten wäre, wurde den Tieren der schwere Schmuck abgenommen. So gilt der schmuckvolle Almabtrieb heute wieder als Detail des festlich begangenen Sommerendes, dessen farbenfrohe Verspieltheit mehr der barocken Mode des 17. und 18. Jahrhunderts entspringt. Verspielt sind auch die Varianten, mit denen die heimkehrenden Rinder in Tirol geschmückt werden. In Regionen wie den Kitzbüheler Alpen und dem Zillertal tragen sie naturbelassene, mit bunten Bändern verzierte Nadelholzwipfel zwischen den Hörnern. In der Gegend westlich von Innsbruck dominieren entrindete Wipfel und Holzgestecke mit figuralen Darstellungen. Vor allem rund um Imst und Landeck sind mit Spiegeln, Bildern und Sprüchen verzierte Stirnmasken verbreitet. Im Ausserfern, Wipptal oder Osttirol wiederum sind Kränze aus Tannenreisig, Alm- und Kunstblumen und Hörnerschmuck beliebt.


Über all diesen kleinen, feinen Unterschieden steht jedoch die große Gemeinsamkeit: die sichere Heimfahrt wird gefeiert. Die Bäuerinnen in den Dörfern servieren Krapfen, Kiachl und andere Köstlichkeiten, von denen manche nur zu dieser speziellen Zeit zubereitet werden. Sind alle Tiere angekommen, können sie und ihre menschlichen Begleiter sich vorerst erholen – bis zum nächsten Sommer auf der Alm.

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